Saas-Fee

17.10.2023
Christian
Man steht am Ende der Welt und zugleich an ihrem Ursprung, an ihrem Anbeginn und in ihrer Mitte.

Kann man sich gleichzeitig an mehreren Orten befinden? Ich meine, als Mensch, nicht als Elektron, das sich gemäss der Quantenphysik nicht an das halten möchte, was für uns eine unumstössliche Regel ist. Bewegen wir uns an einen Ort, sind wir tatsächlich in diesem Moment dort. Auch wenn sich unsere Gedanken meist nicht daran halten und längst schon wieder woanders sind. Aber was meinte dann der grosse deutsche Dichter und Dramaturg Carl Zuckmayer, als er in Saas-Fee den Ausspruch tat:

Man steht am Ende der Welt und zugleich an ihrem Ursprung, an ihrem Anbeginn und in ihrer Mitte.

Um das Herauszufinden mache ich mich auf den Weg an diesen Ort, an dem Anfang und Ende der Welt zugleich sein sollen. Gibt es hier Dinge, die die Gefühle derart in Bewegung setzen, dass man eine so urgewaltige Aussage treffen kann? Oder war da nur der Dramaturg Zuckmayer überwältigt, weil schliesslich bei seinem ersten Besuch im Jahr 1938 sich in seiner Heimat eine Katastrophe ankündigte und er vor den Nazis in die Schweiz floh?

Zuckmayer, ein Mensch, der das Lachen und die Gesellschaft so sehr liebte, und gleichzeitig ein fanatischer Naturliebhaber war. Es muss ihn tatsächlich überwältigt haben, diese unbändige Natur, die der Mensch zwar zu bewältigen sucht, die in ihrer Urgewalt aber trotzdem Bestand hat. Zwar versucht auch hier der Mensch verändernd einzugreifen, aber in dem Moment, in dem man die geteerten Wege verlässt und sich die Türen der Seilbahn hinter einem schließen, fängt man an zu verstehen, was es wohl damit auf sich hat, mit diesem Ursprung der Welt.

Ans Ende der Welt

Bis man nach kurzer Bahnfahrt von Zürich nach Visp aus dem Zug in den Bus wechselt, der sich langsam in den tiefen Tälern in die Höhe schraubt, hat man noch das Gefühl, mit der Welt verbunden zu sein. Je höher es geht, desto mehr wird man eingesogen in die Bergwelt. Links und rechts türmen sich die 4000er in die Höhe und mit Erreichen des Saas Tals sind es schlussendlich achtzehn 4000er, die sich hier dem staunenden Bergfreund offenbaren. In Saas-Grund angekommen, hat man bald den Eindruck, das sei es gewesen, doch ein kleines Sträusschen zieht sich rechterhand weiter nach oben bis zu einem weiteren Talgrund. Endlich in Saas-Fee angekommen!

Das heisst aber auch, dass man auf den motorisierten Untersatz verzichten muss, weshalb eine Anreise mit Rucksack nicht nur stilvoller, sondern zudem auch praktischer ist. Wer möchte schon einen scheppernden Koffer rollend durch ein Bergdorf ziehen? Man würde sich gleich als die Parodie eines typischen Touristen outen. Wenngleich ein Koffer dann wiederum besser in das Hotel passt, denn obgleich man sich hier oben in der Einöde, in einer Sackgasse befindet (denn von hier geht es nicht weiter), heisst das nicht, dass es nicht wunderschöne Hotels gibt. Die Einrichtungen der 70er und 80er Jahre wurden langsam verdrängt und durch stilvolle moderne Räumlichkeiten ersetzt. Modern heisst aber nicht, dass man auf die traditionellen Werte verzichtet und so findet man in vielen Details geradezu außergewöhnliche Arbeiten, wie beispielsweise das Waschbecken im Hotel La Gorge, das komplett aus einem Stück Holz gefertigt wurde. Überhaupt ist das Hotel La Gorge ein durchwegs empfehlenswertes Hotel, in dem man zudem auf keinen Fall versäumen sollte, das abendliche Menu im Restaurant zu geniessen.

Doch darüber habe ich bereits berichtet. Kümmern wir uns also um das, was wir nach einer erholsamen Nacht und einem kräftigenden Frühstück erleben dürfen. Die erste Entscheidung: bleibt man auf dieser Seite des Tals oder geht es zuerst hinunter nach Saas-Grund und auf der anderen Seite hoch Richtung Hohsaas.

Abstieg in die Höhlen

Wo mag man am Besten den Ursprung der Welt erfühlen? Am Besten wohl in Höhlen und Schluchten und so buchen wir einen Bergführer bei den Saas-Fee Guides, der uns in die Gorge Alpine führt. Gewöhnlich erlaufe, erlebe und erklettere ich mir meine Routen lieber selbst, aber die Gorge Alpine darf man nicht ohne Führer durchqueren. So werden wir von Aldo Lomatter geführt, der die Tour vor langer Zeit selbst eingerichtet hat – wir hätten es nicht besser treffen können. Während es zum Frühstück noch in Strömen regnete haben wir beim Abstieg in die Schlucht nur noch das Wasser des Flusses unter uns und die vom Regen nassen Steine, Leitern und Holzpfade, auf denen unsere Bergschuhe erst nach einer Eingewöhnung ihren Halt finden und unsere Schritte mit der Zeit sicherer werden. Gesichert durch das Klettersteig-Set hangeln wir uns an den Stahlseilen über Brücken und entlang schmaler Stege. Zwischenzeitlich hat man den Eindruck, das Anspruchsvollste schon hinter sich zu haben, bis man auf einer kleinen Plattform steht, und es nicht weiterzugehen scheint. Aber zig Meter über einem macht man ein Seil aus, das zu uns hinunterführt. An dessen Ende werden wir angeknüpft und mit einem mulmigen Gefühl im Magen schwingt man auf die andere Seite der Schlucht. Unbedingt das Seilgeflecht auf der anderen Seite erreichen und festhalten, sonst schwingt man haltlos zurück. Weiter geht es an einer Eisenrolle tief in die nächste Höhle. Mit Sicherheit hat Carl Zuckmayer solch abenteuerliche Seiltouren nicht mitgemacht, er würde seinem Begriff des „Ursprungs der Welt“ eine neue Interpretation geben. Bevor wir uns stolz und zufrieden auf den Rückweg machen, erwartet uns noch ein Abseilstück, über das ich nun nicht weiter berichte, schliesslich erzählt man bei Filmen ja auch nicht das Ende.

In der Mitte der Welt

In Anbetracht der limitierten Zeit geht es gleich weiter zur Gondelstation Chalbermatten. Glücklicherweise hat das Restaurant Spielboden auf 2447 m geöffnet, in dem man ausgesprochen gut isst, sonst hätten wir aus Verzweiflung die Erdnüsse essen müssen, die wir vom Hotel als Futter für die Murmeltiere bekommen hatten. Wir gehen eh davon aus, dass wir diese süssen Tierchen zwar vielleicht aus der Entfernung sehen werden, aber füttern? Nachdem wir uns von der Qualität der Erdnüsse überzeugt haben, geht es einige Meter den Wanderweg hinunter und schon sieht man zahllose Murmelis aus den Höhlen schauen. Mit der Zeit kommen sie tatsächlich immer näher, bis sie uns die Nüsse aus der Hand fressen. Zeitvergessen sitzen wir eingebettet in der schönsten hochalpinen Bergwelt, inmitten der kleinen Säuger und empfindet ein Gefühl, im Zentrum der Welt zu sein. Ich weiss nicht, ob Zuckmayer damit die Mitte der Welt meinte und ob er auch Murmeltiere gefüttert hat? Vielleicht hat er nur einer Kuh über den Kopf gestreichelt, die Bergwelt jedenfalls ist die Gleiche. Mal abgesehen vom Gletschereis, das zu seiner Zeit sicher noch weit dicker über den Abgründen hing.

Nasse Kälte

Wir verzichten auf die Bahn hinab, queren in vielen Kehren hinunter Richtung Restaurant Gletschergrotte, lassen diese aber links liegen und wenden uns über den kleinen Bach wieder gen Osten, von Punkt 1982 wieder hinauf auf den Punkt 2190 m. Es ist so ruhig, kein Mensch unterwegs. Es geht auf dem Plattjenweg hinunter nach Saas-Fee, zur Kneippanlage. Die nackten Füsse in dem kalten Wasser, anschliessend das barfüssige Laufen auf Steinen, Kies und Rinden sensibilisiert und zeigt auf neue, und doch so alte Art, was Natur in uns bewirken kann.

Gletscheraussicht

Die Impressionen eines Tage reichen bald schon aus, um voll inhalierter Natur den Heimweg anzutreten. Doch Saas-Fee hat mehr zu bieten, als es in einem Tag erfahrbar ist. Der nächste Tag überrascht mit traumhaftem Wetter, ideal für den „Aufstieg“ auf der anderen Seite des Tals zum Hohsaas. Wiederum wählen wir die Seilbahn-Variante, über Kreuzboden (2398 m) bis hinauf zum Hohsaas auf 3137 m Höhe. Von dort machen wir uns auf, den 1.2 km langen „Weg der 18 Viertausender“ zu begehen. Die Aussicht auf die stolzen Gipfel sind eine Augenweide. Auf Steinblöcken ist je der Umriss eines Viertausenders gezeigt sowie das Wichtigste über den Berg beschrieben. So wandert man von einem Viertausenderschild zum Nächsten und erfährt so vieles über diese Giganten. Direkt vor einem türmt sich die Weissmies auf, einer der etwas leichter zu erklimmenden Viertausender, den ich vor nun schon über 20 Jahren besteigen konnte, damals noch mit erheblich mehr Schnee auf dem Gletscher.

Über Schneefelder rennen wir zurück hinunter Richtung Kreuzboden. Die Natur hat in dieser Höhe eine ganz eigene Faszination. Weit über den wärmenden grünen Wiesen und Lerchenwäldern hat es hier nur noch leere Öde. Vereinzelt kommen kleine Blüten zwischen den Steinen hervor, besonders das Berg-Alpenglöckchen ist zu sehen, sobald der Schnee weicht. Zwischenhalt dann in der Weissmieshütte, um uns mit einem traditionellen Rösti zu stärken. Draussen verfangen sich die Wolken an den Felswänden und regnen sich ab, ideal also, um drinnen in der Hütte Schutz zu finden.

Auf dem Kreuzboden ist schon längst die Sonne wieder am Scheinen und so wählen wir eine etwas besondere Abfahrt. Wenn man die dicken Reifen sieht, versteht man dann auch, warum die Monster-Trottis so bezeichnet werden. Die Abfahrt geht langsam und gemütlich bis hinunter ins Tal, zuerst auf dem Schotter, später auf dem Asphalt. Gegenverkehr hat es hier kaum und so kann man gemächlich abfahren.

 

Auch wenn selbst ein Wochenende reicht, um an diesem Ort zur Ruhe zu kommen und doch vieles zu erleben, so kann man Zuckmayer gut verstehen, dass er sich entschieden hat, gleich ganz zu bleiben und den Rest seiner Tage hier zu verbringen, am Ende und Ursprung zugleich. Womit sein Ausspruch in ganz besonderer Weise auf ihn zutrifft. Die Kraft und Anziehungskraft dieser Berge werden somit dafür sorgen, dass auch ich nicht das letzte Mal in diesem Tal war. Das nächste Mal vielleicht auf neuen Wegen. Aber beim Dinner würde ich dann wohl doch wieder auf Altbewährtes zurückgreifen und im Restaurant des Hotel La Gorge einkehren.

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2 Kommentare

2 Kommentare

  1. Jürgen

    Dem Fazit kann man sich nur anschließen. Die Bildausschnitte sind phantastisch und geben einen Eindruck von der Vielgestaltigkeit der Bergwelt. Nicht zu vergessen die eingängigen Texte und natürlich auch die speziellen Hinweise auf Unterkunft und Essen.

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